Wie aus Dorfnazis organisierte Neonazis werden
Brackel, eine Gemeinde mit knapp 2000 Einwohner*innen im Landkreis Harburg im Dreieck zwischen Winsen, Buchholz und Lüneburg. An der Ausfallstraße Richtung Thieshope gelegen befindet sich die Zimmerei der Familie Müller, daneben ihr Wohnhaus. Hier wachsen die Kinder der Familie, Hannes und Micha, auf.
Anfang der 2010er Jahre – Hannes ist zu diesem Zeitpunkt Anfang 20, Micha etwas jünger – bauen die Brüder einen kleinen Schuppen im Garten des elterlichen Grundstücks zum Treffpunkt ihres Freundeskreises um. Zusammen mit anderen Jugendlichen aus dem Ort trinken sie hier Alkohol und hören Rechtsrock. Eigens formulierte Hausregeln im „Brackeler Schuppen“ stellen klar, wann geraucht und welche Musik abgespielt werden darf. Strafe bei Missachtung der Regeln ist das Trinken von Schnaps. Suff- und Dorfnazis wie es sie in vielen Dörfern in Niedersachsen gibt.
Die Regeln des „Backeler Schuppens“
Doch die Entwicklung der Brüder ist an diesem Punkt nicht stehengeblieben. Etwa zehn Jahre später – den „Backeler Schuppen“ gibt es längst nicht mehr – sind die Beiden tief in der rechten Szene verankert.
Die Anfänge
Schon bald knüpft Micha Müller, der auf seinem Facebookprofil bis heute Braunschweig als Wohnort angibt, jedoch wieder in Brackel wohnt, Kontakt zu den dortigen Neonazistrukturen um Sebastian Weigler (NPD). Am 13. Februar 2018 nimmt er zusammen mit etwa zwei dutzend Neonazis an einer von Die Rechte Süd-Ost-Niedersachsen organisierten Trauermarsch in Vienenburg im Landkreis Goslar teil. Unter den Teilnehmer*innen befinden sich auch langjährig aktive Neonazis wie der wegen Volksverhetzung verurteilte Dieter Riefling und Vertreter*innen der NPD und ihrer Jugendorganisation Junge Nationaldemokraten (JN). Schon eine Woche später, am 17. Februar 2018, nehmen Micha und Hannes Müller an einer NPD-Veranstaltung im niedersächsischen Karlshöfen teil. Neben inhaltlichen Vorträgen steht auch ein Konzert von Lunikoff alias Michael Regener, dem ehemaligen Sänger der verbotenen Band Landser, auf der Tagesordnung. Unter den circa 80 Teilnehmer*innen sind unter anderem Manfred Börm (langjähriger Funktionär der NPD), Lennart Schwarzbach (Vorsitzender NPD Hamburg), Thorsten Heise (Militanter Multifunktionär der neonazistischen Szene mit Kontakten zum NSU) und Henrik Ostendorf (einflussreicher Bremer Neonazi). Ab diesem Zeitpunkt beteiligen sich die Müllers an nahezu allen JN– oder NPD-Veranstaltungen in Niedersachsen. Und auch die Bekanntschaft zu Manfred Börm wird später noch eine Rolle spielen.
Micha Müller betreut den JN-Infostand am 17.02.2018 bei der NPD-Veranstaltung mit anschließendem Konzert in Karlshöfen
Fortan zu viert unterwegs
Im Spätsommer 2018 stoßen Lukas Weselmann und Hendrik Höft zu den Brüdern Müller. Beide scheinen sich schon von Beginn an politisch an den Brüdern, insobesondere an Micha Müller, zu orientieren. Fortan ist die Gruppe zu viert unterwegs und reist zusammen zu diversen Demonstrationen.
Die „JN-Brackel“ auf der Demonstration gegen „linken Journalismus“ am 23.11.2019 in Hannover. Lukas Weselmann mit blauer Jacke in der Mitte, neben ihm Hannes Müller und Hendrik Höft
Beim „Heß-Gedenkmarsch“ in Berlin am 18. August 2018 und auch bei einer Demonstration zum 90. Geburtstag der inhaftierten Holocaustleugnerin Ursula Haverbeck in Bielefeld am 10. November des selben Jahres sind sie dabei. Auch auf einer Demonstration der JN-Niedersachsen am 23. November 2019 in Hannover gegen Journalist*innen, die in den Augen der Neonazis „linken Journalismus“ betrieben, sind die Vier anwesend.
Lukas Weselmann, Anfang 20, ist in Wulfsen, aufgewachsen und in der Dorfstruktur bei der Freiwilligen Feuerwehr Wulfsen integriert. Seine Freundin Clara Rychlik aus Anklam ist ebenfalls bestens in der extrem rechten Szene vernetzt und teilt entsprechende Beiträge über ihre Social Media-Kanäle.
Hendrik Höft dagegen kommt aus der Nähe von Ahlerstedt, einer sehr ländlichen Gegend im Landkreis Stade. Vor seiner Organisierung in der aktiven Neonaziszene hat er auf Dorfpartys und Geburtstagen unter dem Namen „DJ Hendrik“ aufgelegt.
Die Müller Brüder und ihre Freunde im Sptember 2015. Micha und Hannes Müller in der Mitte
Im Februar 2019 reist Lukas Weselmann mit Micha Müller als Teil einer deutschen Delegation nach Ungarn, um am sogenannten „Tag der Ehre“ und am „Ausbruch 60“ teilzunehmen. Über 1000 Nazis aus ganz Europa huldigen hier der letzten großen Schlacht der ungarischen Pfeilkreuzler, Waffen-SS und Wehrmachtssoldaten gegen die Rote Armee im Jahre 1944.
Dabei sind auch Vertreter*innen von Die Rechte aus Dortmund, unter anderem Matthias Deyda, einer der führenden Köpfe der Neonazi-Partei und zuständig für die internationale Vernetzung. Während Micha Müller an der 60 Kilometer langen Nachtwanderung „Ausbruch 60“ teilnimmt, posiert Lukas Weselmann zusammen mit dem Tostedter Kampfsportler Andre Bostelmann auf einem Foto der Légió Hungária, die inzwischen als eine der wichtigsten Neonaziorganisationen Ungarns gilt und eng mit anderen europäischen Neonazigruppen zusammenarbeitet.
Andre Bostelmann (zweiter von links, kurze Hose) und Lukas Weselmann (vierter von links, graue Tarnfleckjacke) in Ungarn mit der Légió Hungária
„JN Brackel“
Dass die Gruppe mittlerweile überregional vernetzt ist und auftritt, treibt vor allem Micha Müller voran. Schon bald beteiligen sich die vier nicht mehr nur an Demonstrationen, sondern übernehmen auch Aufgaben. So treten sie am 15. Februar 2020 während des alljährlichen neonazistischen Trauermarschs in Dresden als Ordner auf. Bei diesem Marsch werden die zivilen Opfer alliierter Flugangriffe auf Dresden 1945 instrumentalisiert, um die deutsche Täterschaft zu leugnen und einen Opfermythos zu schaffen.
Aufgrund ihrer Aktivitäten kann die Gruppe mittlerweile als Untergruppe der JN Niedersachsen angesehen werden. Im Rahmen der NPD-Kampagne „Schutzzone“ gründen sie ihren eigenen Ableger „Schutzzone Nordheide“ und ‚patrouillieren‘ durch Winsen, Buchholz i.d. Nordheide, Tostedt, Hanstedt und Lüneburg. Dabei verkleben und verteilen sie Propagandamaterial der NPD. Zahlreiche öffentlich aufgehängte Transparente und Plakate in der Region werden ihnen zusätzlich zugeschrieben.
Eschede
Unweit der Gemeinde Eschede zwischen Hannover und Uelzen liegt der „Hof Nahtz, benannt nach den Bewohner*innen und früheren Besitzer*innen Joachim und Renate Nahtz. Seit den 90er Jahren finden auf dem heruntergekommenen Resthof Veranstaltungen der extremen Rechten statt, unter anderem Wehrsportlager der Nationalen Liste aus Hamburg (1992), diverse Sommer- und Wintersonnenwendfeiern sowie ein Pfingstlager der mittlerweile verbotenen neonazistischen Heimattreuen Deutschen Jugend – HDJ (2007). Letzteres erlangte vor Kurzem durch die Teilnahme des AfD-Funktionärs Andreas Kalbitz Bekanntheit.
Völkisches Treffen anlässlich der „Sonnenwendfeier“ in Eschede am 21.12.2019, ganz rechts im Bild Joachim Nahtz, daneben Manfred Dammann
2019 verkauft Nahtz sein Grundstück an die NPD Niedersachsen, die nun versucht, den Hof zu einem Event- und Schulungszentrum umzubauen. Seitdem wird renoviert, ein Zaun soll mittlerweile vor neugierigen Blicken schützen. Die Bauarbeiten auf dem Gelände leitet der Bauunternehmer und ehemalige Leiter des „NPD-Ordnerdienstes“ Manfred Börm, den die Müller-Brüder bereits von der NPD-Veranstaltung in Karlshöfen kennen.
Börm ist langjähriger Akteur der Szene: 1979 wird er wegen eines Überfalls auf ein Nato-Biwak, bei dem auch Waffen erbeutet werden, im „Bückeburger-Prozess“ zu sieben Jahren Haft verurteilt. Nach seiner Haftentlassung wendet sich Börm, der sich selbst auch gerne mal als „Zuständiger“ (vgl.1) bezeichnet, der Schulung von Nachswuchskräften zu. Zunächst in der Wiking-Jugend, dann in der Heimattreuen Deutschen Jugend (HDJ) durchlaufen etliche spätere Neonazi-Funktionär*innen seine Ausbildungen und Wehrsportübungen, viele von ihnen betätigen sich danach als Teil des „NPD-Ordnerdienstes“. Sowohl die Wiking-Jugend als auch die HDJ sind mittlerweile wegen ihres Wesensverwandschaft zum Nationalsozialismus verboten (vgl.2)
Micha Müller als Fotograf und Manfred Börm in Eschede am 13.06.2020
Unter anderem von Börm ausgebildet wurden Stephan Niese und Sven Brenn, die beide in unmittelbarer Nähe zu Brackel leben. Niese kommt aus Lübberstedt (in der Gemeinde Gödenstorf), Brenn hingegen aus Salzhausen. Beide Neonazis wurden 1999 als Vorsitzende in den neuen Vorstande des Kreisverband Harburg-Land der NPD gewählt. Auch der vorherige, 2016 verstorbene, Kreisverbandsvorsitzende Gerhard Sellin aus Luhdorf war jahrzehntelang für die NPD vor Ort aktiv. Und auch er weist Verbindungen zu Manfred Börm auf: 1997 waren er und Börm Teil des Unterbezirksvorstandes der NPD, bestehend aus den Kreisverbänden Soltau-Fallingbostel, Lüneburg, Harburg-Land und Lüchow-Dannenberg).
Auch die Gruppe aus Brackel beteiligt sich nun rege an den Aktivitäten der NPD in Eschede und dem Ausbau des abgelegenen „Hof Nahtz“. Die handwerklichen Fähigkeiten von Hannes Müller, der als Dachdeckermeister in der Zimmerei seines Vaters arbeitet, dürften bei der Renovierung des Hofes gefragt sein. Zusammen nimmt die Gruppe außerdem an internen Schulungen der JN Niedersachsen und den Demonstrationen der NPD durchs Dorf teil.
Micha Müller verteilt zudem am 22. August 2020 zusammen mit dem Neonazikader Sven Wellhausen und weiteren Personen Flyer im Ortskern von Eschede. Ihm kommt zusätzlich noch eine weitere Rolle zu. Neben Manfred Dammann, dem Vorsitzenden der NPD Niedersachsen und Gründer von Nordland TV, tritt er als Journalist auf und fotografiert den antifaschistischen Protest gegen den Hof und die Aktivitäten der NPD.
Hannes Müller beim Arbeitseinsatz auf dem Hof Nahtz in Eschede am 13.06.2020, Hendrik Höft am linken Bildrand
Hendrik Höft (Mitte, vorne) und andere beim Arbeitseinsatz auf dem Hof Nahtz in Eschede am 13.06.2020
Micha Müller verteilt mit Lescow Giese Flyer der NPD in Eschede am 22.08.2020
Was bleibt?
Der Weg der Brackeler Gruppe ist ein Klassischer: Von einem latent rechten Freundeskreis im elterlichen Schuppen tief in die rechte Szene hinein. Von jugendlichen Dorfnazis hin zu öffentlich auftretenden, gut vernetzten und ideologisch gefestigten JN-Aktivisten. Die „JN Brackel“ kann nach den Strukturen in Braunschweig als die aktivste JN-Struktur in Niedersachsen bezeichnet werden.
Es ist nahezu unmöglich, dass ihre Radikalisierung unbemerkt stattgefunden haben soll. Die aktuellen Aktivitäten in Brackel und Eschede sind mit einer langen Geschichte der NPD und ihrer Protagonist*innen in den entsprechenden Regionen zu erklären.
Die Mitglieder der „JN Brackel“ sind aufgewachsen in einem Landkreis, in dem seit Jahrzehnten Neonazis agieren. Langjährige Aktivisten der NPD wohnen nur ein Dorf weiter.
Zwar befindet sich die NPD in einem desolaten Zustand, jedoch haben sie und insbesondere ihr langjähriger Aktivist Manfred Börm sich mit dem Zentrum in Eschede einen Ort für die ideologische Schulung von Nachwuchs und der Vernetzung untereinander geschaffen, der das Potential zur weiteren Radikalisierung, Organisierung und dem Ausbau der Strukturen hat. Die Mitglieder der „JN Brackel“ sind so gesehen die erste Generation, die diese Schulung in fortgeschrittenem Stadium durchläuft.
Bei weiteren Informationen zu der Gruppe oder den Einzelpersonen, meldet euch gerne bei uns!
1: Vgl. die Rede von Börm bei einer Kundgebung gegen den Bau einer Moschee in Lüchow am 24.02.2018: https://www.youtube.com/watch?v=yBmzjXWgDEY“ (abgerufen am 28.12.2020)
2: Weitere Informationen zu Manfred Börm sind hier zu finden: https://www.belltower.news/boerm-manfred-28946/
Am 20.02.2021 erschien auf Indymedia ein Artikel von Antifaschist*innen, die die vier Neonazis in ihren Wohnorten geoutet haben. Der Artikel ist zu finden unter https://de.indymedia.org/node/134474 , die Outingflyer haben wir als Service noch mal für euch hier hochgeladen.